Adventgedichte: Valer und Anna von Emanuel Geibel

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Adventgedichte: Valer und Anna von Emanuel Geibel

Valer und Anna

Als Bonapart’ auf seinem Siegesgang,
Dem keine Hand von Staub ein Ziel zu stecken
Bestimmt schien, plötzlich stockt’ und wankt’ und sank
Durch Moskau’s Flammen und des Winters Schrecken,
Geschah’s, daß in des Rückzugs Hast und Drang,
Der wirr dahinstob durch die öden Strecken,
Ein deutscher Hauptmann unter’m flücht’gen Trosse
Im Schnee zusammenbrach mit seinem Rosse.

Erstarrt vom Froste, halb verhungert, wund,
Sucht er noch einmal sich emporzuraffen:
Umsonst, sein Haupt sinkt rückwärts auf den Grund
Zu Wagentrümmern, weggeworfnen Waffen
Und Todten, die, gleich ihm, in weitem Rund
Die Flucht umhergestreut. Ein tief Erschlaffen
Kommt über ihn: mit Mühe nur die Hände
Noch faltet er und faßt sich auf sein Ende.
Oft hatt’ er schon in des Gefechtes Glut
Dem Tod getrotzt! auch jetzt in dieser herben
Gestalt sieht er ihn nahn mit festem Muth;
Trifft’s doch nur ihn, der ohne Weib und Erben.
Wenn irgend ein Gedank’ ihm wehe thut,
Ist’s der, nicht für sein Vaterland zu sterben,
Denn treu im Sinn dem Geiste seiner Ahnen,
Folgt’ er gezwungen nur des Kaisers Fahnen.

So liegt er da, liegt manche Stunde lang,
Bewußt bald, fiebernd bald von Kampf und Schlachten!
Um Mittag war’s, als er zu Boden sank,
Und nun bereits will’s überm Schneefeld nachten;
Die wunde Schulter brennt; nach einem Trank
Lechzt seine Kehle mit erhitztem Schmachten –
Da hört er’s traben, dann ein Pfiff, ein Fluchen.
Das sind Kosacken, die nach Beute suchen.

Und näher kommt’s, und roth wie Fackelbrand
Fließt’s um ihn her; er sieht im engen Kreise
Die bärt’gen Lanzner, die mit sichrer Hand
Den Tod ausplündern nach Barbarenweise.
Da rinnt, was er bisher noch nie empfand,
Ein Schau’r von Furcht durch Mark und Bein ihm leise.
In Gottes Hand halt’ er sich still ergeben,
Die Hand des blut’gen Räubers macht ihn beben.

Schon beugt ein Graubart über ihn sich her,
Und da der Wunde, den er todt geglaubt,
Emporzuckt, greift er ruhig nach dem Speer,
Ihn kalt zu machen, eh’ er ihn beraubt;
Da plötzlich schallt, ein Ruf: Um Gott! Vater!
Halt! Halt! – Und durch den Schwarm mit hohem Haupt
Drängt sich ein Jüngling, dem die Silberlitzen
Der Russengarden an den Schultern blitzen.

Zurück, zurück, Kosacken! ruft er wieder.
So bittre Störung kam den Plündrern nie;
Doch da sie Degen, Schärp’ und Hutgefieder
Am Fremdling schaun, gehorchen zögernd sie.
Der aber wirft sich bei dem Deutschen nieder,
Das Haupt ihm sanft aufstützend mit dem Knie,
Reibt ihm die Schläfe, tröpfelt ihm zum Munde
Ein Restchen Wein und forscht nach seiner Wunde.

In’s Meer wirf deine Wohlthat, spricht ein Lied
Im Morgenland, dem Land der weisen Zungen;
Wirf sie in’s Meer, wenn sie der Fisch nicht sieht,
So sieht sie Gott. – Nachsprech’ ich’s tiefdurchdrungen;
Die gute That, wie still sie auch geschieht,
Ist unverloren. Gleich dem Kern, verschlungen
Vom Boden, reift sie. Sinkst du einst ermattet:
Sie ward zum Baum indeß, der kühl dir schattet.

Valer erfuhr’s. Er hatt’ auf Moskaus Gassen
Jüngst einen Bauern, dessen schlichte Tracht
Kaum zu den seinen Zügen wollte passen,
Aus trunkner Schweizer Händen losgemacht;
Zwar seinen Namen hatt’ er ihm gelassen,
Doch dann des Vorfalls weiter nicht gedacht,
Im schmucken Kriegsmann nun, der ihm so bieder
Beispringt, erkennt er seinen Schützling wieder.

Zum Reden freilich fehlt jetzt Kraft und Zeit.
Gefahr ist im Verzug. Der Russe schlingt
Ihm um die Wund’ ein Tuch voll Sorglichkeit,
Das weich und feucht das Blut zum Stocken zwingt.
Dann ruft er laut; ein Schlitten steht bereit,
Drauf man den Tieferschöpften unterbringt,
Der trinkt noch einmal mit gedehntem Zuge;
Drauf sinkt er hin – und vorwärts geht’s im Fluge.

Schlaf, süßer Schlaf, geheimnißvoller Sohn
Des heil’gen Dunkels, der du jede Last
Uns abnimmst, und im Kranz von buntem Mohn
Vom Bruder Tod nichts als sein Lächeln hast;
Wenn du dem Herzen, dem sein Glück entflohn,
Die allzulauten Schläge lullst in Rast,
Wie lieblich dann, ein Hauch aus Paradiesen,
Ist deiner Flügel Wehen! Sei gepriesen!

Auch unsern Dulder rührt ihr sanfter Schlag;
Wie kühler Schatten ruht’s auf seinen Sinnen,
Lang’, lang’. – Zwar manchmal will, als wär’ es Tag,
Ein Strahl durch seiner Träume Zwielicht rinnen,
Doch sinkt er stets, eh er sich sammeln mag,
Auf’s neu zurück, er fühlt’s, auf weiche Linnen.
Wie viel indeß verfließt des Zeitenschwalles,
Ihn kümmert’s nicht. Er ruht – und das ist alles.

Doch endlich summt es in sein trunken Ohr
Wie tiefmetallner Hall, und klingt, und klingt –
Er hört’s, er rührt sich, schlägt das Aug’ empor,
Und wie sein Blick umher im Kreise dringt,
Als ob er stets noch träume, kommt’s ihm vor; –
Im Himmelbett, das grüne Seid’ umschlingt,
Sieht er sich ruhn, in hohem Teppichzimmer,
Mit Holz getäfelt von gedämpftem Schimmer,

Und hier ein Tischlein; Gläser mannigfalt,
Arzneien drauf, gezupfte Linnenflocken;
Und dort zunächst dem Fenster, mild umwallt
Vom Sonnenglanz und vom Getön der Glocken,
Hinlehnend eine weibliche Gestalt.
Sie kehrt den Rücken ihm; die braunen Locken,
Wie drüberhin des Morgens Strahlen wogen,
Sind wie von goldnem Glorienschein umzogen.

Zu ordnen scheint sie mit vertieftem Sinn
Die Blumen, die des Fensters Blend’ umranken,
Und wie zum Gruß um’s Haupt der Pflegerin
Mit brennend rothen Kelchen niederschwanken.
Valer starrt hin, blickt fort, starrt wieder hin –
S’ist wie zuvor. Er müht sich, die Gedanken
Zu zwingen, daß sie Sonst und Jetzt verbinden;
Umsonst, er weiß sich nicht zurecht zu finden.

Den Sturz im Schnee, die Angst der Schreckensnacht,
Ein dumpf Empfinden dann, er sei gerettet,
Mehr kann er nicht erinnern, wie bedacht
Rücksinnend er auch Schlüss’ an Schlüsse kettet.
Wer hat in dieß Asyl ihn hergebracht?
Wer ihn so weich und liebevoll gebettet?
Gepflegt, verbunden, wer? und wer ist dort
Die holde Hüterin am holden Ort?

Er stützt sich auf im Bett, und hingewandt
Zu ihr – auf russisch, daß sie ihn verstehe –
Wo bin ich? fragt er, welcher güt’gen Hand
Verdank ich’s, daß ich noch das Tagslicht sehe?
Da blickt sie um, und steht wie festgebannt,
Thränen im Aug’. Ob’s Scham vor seiner Nähe,
Ob’s Freud’ ist, was sie so bewegt, ob beides –
Ich kann’s nicht sagen; wer’s vermag, entscheid’ es.

Gelobt sei Gott! so ruft sie, und vom Grunde
Des vollen Herzens quellen Ton und Wort.
Doch dann, vergessend ganz, daß er um Kunde
Sie ansprach, wie ein Rehlein schlüpft sie fort
Mit leichten Füßen. Nach blickt ihr der Wunde,
Und preßt die Hand auf’s Herz, als spürt’ er dort
Ein plötzlich Leid – da, freudig lächelnd, tritt
Sein junger Retter ein mit raschem Schritt,

Nun geht’s an ein Erzählen, Forschen, Fragen,
Und bald sind alle Wunder aufgeklärt.
Valer, vom flücht’gen Schlitten hergetragen,
Ruht an Gregors, des Russen, altem Herd,
Wo ihm, dem Schläfer, nun seit sieben Tagen
Der edle Gastfreund Pfleg’ und Schutz gewährt,
Von seiner Schwester, seiner Mutter Händen
Hold unterstützt, die Wohlthat zu vollenden.

Auch hört Valer, um den’s wie Licht sich breitet,
Daß mehr Gregor ihm dankt, als er verstand;
Er trifft in ihm den Kühnen, der, geleitet
Von heil’gem Zorn, den düstern Fackelbrand
In Moskau’s Schooß verkleidet vorbereitet –
Und fiel er damals in der Franken Hand,
Ward er erkannt auf seinen dunkeln Pfaden,
So war sein Theil die Kugel sonder Gnaden.

Bald nahn, den Gast zu grüßen, auch die Frauen:
Die Mutter mild und ernst, in Wittwentracht,
Ergebner Schwermuth Lächeln um die Brauen –
Die Tochter sah vorhin er, kaum erwacht.
Weich, schlank und schmiegsam ist ihr Wuchs zu schauen;
Vom Auge, dunkel wie gestirnte Nacht,
Strahlt Gut’ und Unschuld: Schläf’ und Wangen zeigen
Den blassen Schmelz, der ächten Peilen eigen.

Bald wird man traulich. Das Gespräch durchwehen
Rührung und Scherz, die gern Genossen sind,
Wie Falter gern um dunkle Bäche schweben –
Erwärmt vergißt man, daß die Stunde rinnt.
Erst als Gregor, dem Kranken Ruh zu geben,
Zum Aufbruch anmahnt, scheidet man geschwind,
Und Anna spricht, gemach der Scheu entschleiert,
Sie habe nie so froh Advent gefeiert.

Advent! das wollten jene Glocken sagen,
Die in den Traum ihm klangen, tief gestimmt;
Advent! ihm kommt aus frühsten Jugendtagen
Ein Schauer bei dem Wort, sein Auge schwimmt,
Des Münsters dunkle Pfeiler sieht er ragen,
Die Orgel hallt, die Fensterrose glimmt,
Advent! du Fest, zur Heilsbotschaft erkoren,
Er fühlt an dir zum Heil sich neugeboren.

So mild ist kein Gefühl, als zu genesen
Von schwerer Krankheit, die uns trüb umgraut.
Ein sanft Ermatten liegt auf unserm Wesen,
Gleich jenem Duft, der über Früchte thaut;
Wir blättern spielend nur, anstatt zu lesen,
Im Buche der Erscheinungen, doch schaut
Beim holden Spiele, deß wir rastend pflegen,
Die schöne Welt nur inn’ger uns entgegen.

Empfunden hab ich’s einst an Griechenlands
Gestaden, wo ich schon zu sterben wähnte.
O, wie mir da getaucht in tiefern Glanz
Der Himmel schien, die Bucht sich blauer dehnte,
Als ich nach Tagen dumpfen Fieberbrands
Am Zinnenrand des Klostergartens lehnte,
Und tiefen Zugs die duft’ge Kühle sog,
Die sanft herauf von Blüthenwäldern flog!

Glücksel’ge Stund’! In stiller Glorie ging
Des Tages Strahlenwimper langsam nieder;
An Tempeln und Cypressen scheidend hing
Sein Feuerblick, die Berge glänzten wider,
Das weite Meer ward wie ein goldner Ring –
Rubin die Inseln drin – und ferne Lieder
Trug her der Wind. Ich jauchzt’ und fühlt’ allein!
Du lebst, du lebst, und dieß ist wieder dein.

So war’s Valer. Und Süßres noch vielleicht
Geschieht ihm. Tank und Muße schüren sacht
Ein Feuer, das ihn erst im Traum beschleicht
Und, wie er’s spürt, schon brennt mit Uebermacht:
Aus jedem Becher, den ihm Anna reicht,
Nun trinkt er Leid und Wonnen: jede Nacht
Entschläft er, ihres Namens Hall im Munde;
Am Arm vernarbt, im Herzen klafft die Wunde.

Wer schilt ihn drum? Mit einem schönen Kind
Ist’s mißlich, unter einem Dach zu leben;
Wer mag an so viel Reizen täglich blind
Vorbeigehn, so ihm Gott ein Herz gegeben?
Besonders wenn dieß Herz noch nie geminnt,
Wie’s bei Valer war, oder wenn ihm eben
Die Welt entriß, woran es hing in Treue;
Heimweh nach alter Liebe zeugt die neue.

Nennt mich leichtfertig nicht um dieses schwere
Geständniß. Doch so ist des Manns Natur;
Viel trägt sein junges Herz, nur nicht die Leere,
Wenn’s einmal erst, was lieben heißt, erfuhr;
Im Blick noch um vergangnes Glück die Zähre,
Sucht er schon künft’ges. Romeo ließ sich nur
So rasch von Juliens Augen überwinden,
Weil er voll Schwermuth war um Rosalinden.

Doch Anna? fragt ihr. Nun, die weiß von Grämen,
Von Seufzern nichts; fort blüht sie ohne Harm;
So einfach scheint ihr’s, Theil an dem zu nehmen,
Der ihr den Bruder löst’ aus Feindes Schwarm.
Daß süß dieß Mitleid, soll sie sich drum schämen?
Sie hegt ihn, pflegt ihn, stützt ihm mit dem Arm,
Wenn er, auf Stunden seiner Haft entlassen,
Lustwandelt auf des Schlosses Glasterrassen.

Und Abends, wenn im trauten Lampenschein
Beim Nachtmahl er erzählt von seinen Zügen,
Von Krieg und Schlacht, vom heimathlichen Rhein,
Da lauscht sie still mit athmendem Vergnügen;
Auch flicht sie wohl ein lächelnd Wort mit ein,
Und weiß voll Sinn zu preisen und zu rügen:
Oft muß er staunen, wie sie, kaum berichtet,
Mit sicherm Geist die schwersten Dinge schlichtet.

Viel Weisheit wohnt beim weiblichen Geschlechte,
Dafern der Ahnung Stimm’ aus seiner Brust
Nicht weggebildet ward. Wo Tag’ und Nächte
Der Mann oft Gründe wägt für Scheu und Lust,
Da trifft beim ersten Blick die Frau das Rechte,
Sie trifft’s und ist sich keines Grunds bewusst;
Der Mann fragt Bücher, Freunde, Welterfahrung,
Das Weib vernimmt des Herzens Offenbarung.

Drum geh’ zu Frau’n, willst du Entscheidung haben
Auf irrem Pfad, bei schwankendem Geschick;
Und bist du Künstler, breite deine Gaben
Am liebsten aus vor ihrem reinen Blick,
Und wohl dir, mögen sie sich dran erlaben!
Nur eins, bleib ihnen fern mit Politik,
Denn hier auch spricht ihr Herz, das heißt: es schwört
Blind auf das Banner deß, dem’s angehört.

Doch zum Bericht! wir kommen sonst in’s Stocken.
Das Weihnachtsfest ist unter Kerzenschein
Dahingeflohn und kindlichem Frohlocken;
Des Jahres letzte Dämmrung bricht herein.
Unwetter bringt sie draußen, Sturm und Flocken,
Bleigießen drinnen, scherzhaft Prophezein;
Auch läßt Nußschalen man, drin Lichter glimmen,
Im weiten Rund des Silberbeckens schwimmen.

Glückwünschend drauf bei Hellem Gläserklange
Begrüßt man sich um Mitternacht. Valer
Wird still; der Schluß des Jahres mahnt ihn bange,
Daß hier nicht fürder seines Bleibens mehr.
Nach Anna blickt er mit wehmüth’gem Drange;
Die scherzt und lacht; ihr scheint das Herz nicht schwer
Um Künft’ges, das sie freilich nie erwogen.
Da blitzt’s ihm auf: Wie, wenn du dich betrogen?

Er geht, doch nicht zur Ruhe. Schlaflos ziehn,
Von Zweifelsqual in Hoffnung. Liebt sie ihn?
Nicht Rast vergönnt dieß Räthsel seinem Herzen.
Vom Lager springt er, schürt im Steinkamin
Die Flammen auf, entzündet seine Kerzen,
Setzt sich und schreibt, von hast’ger Glut getrieben,
Und dann zerreißt er, was er kaum geschrieben.

Ach, jedes Wort erscheint ihm todt und kalt;
Er kann’s nicht mit den dürft’gen Lettern sagen,
Was zitternd heiß in seiner Seele wallt;
Wer fesselt auch des Lebenspulses Schlagen?
Wer bannt der Lohe Züngeln zur Gestalt?
Je mehr er sinnt, je mehr muß er verzagen,
Die Hähne krähn, der Dämmrung weicht die Nacht,
Die Sonne steigt, und er hat nichts vollbracht.

Bleich, überwacht, das Blut von Fieberpein
Erregt, betritt er um des Frühmahls Zeit ‘
Den Saal und findet Anna noch allein.
Holdselig sitzt sie da; das schlichte Kleid
Von blassem Meergrün hebt den Silberschein,
Der um ihr Antlitz webt. Voll Herzlichkeit
Begrüßt sie ihn auch heut’, doch sie erschrickt,
Wie sie des Gastes düstre Stirn erblickt.

Um Gott, Valer, was ist euch angethan?
So fragt sie bang, Bestürzung auf den Brauen,
Sagt an, welch’ plötzlich Unheil konnt’ euch nahn?
Sprecht! sprecht! – Er aber blickt sie mit den blauen,
Tiefdunkeln Augen lange forschend an,
Als wollt er wie Krystall ihr Herz durchschauen;
Dann spricht er kurz, doch bebt im Ton sein Leiden:
Ich bin genesen, Anna, ich muß scheiden.

Von Menschen wissen wir, die in der Nacht
Der Mond emportreibt mit entschlafnen Sinnen;
Wie Geister sonder Schwere wandeln sacht
Auf Giebeln sie dahin und Thurmeszinnen;
Doch rufst du sie bei Namen: jäh erwacht,
Des Auges Nebel fühlen sie zerrinnen,
Sie sehn, sie zittern, Angst befällt die Glieder,
Und Schwindel reißt sie in die Tiefe nieder.

So ist’s mit Anna. Wie ein Traum zerstiebt
Beim Worte: Scheiden all ihr harmlos Wähnen;
Auf steilem First, der nirgends Halt ihr giebt,
Sieht sie zu Füßen sich den Abgrund gähnen;
Sie ist erwacht, sie stürzt hinein – sie liebt.
Durch ihre Wimpern bricht ein Strom von Thränen,
Und aus der tiefsten Seele weint das Wort:
O bleib, Valer, o bleib, o geh nicht fort!

Und wie er glühend nun, halb unbewußt,
In dunklem Trieb nach ihr die Arme breitet,
Da wirft sie stürmisch sich an seine Brust
Und will vergehn in Schluchzen. O wie streitet
Im Zittern dieses Lautes Leid mit Lust!
Wie holden Wohlklang auch die Welt bereitet,
So süß mag keiner wie solch Weinen sein,
Das wortlos sagt: ich bin auf ewig dein.

Und dann, indeß ihn fest die Arm’ umschließen,
Wirft sie das Haupt zurück, und schaut empor
Zu ihm mit Augen, die von Tränen, fließen,
Und dennoch lächeln, ach, wie nie zuvor;
Da fühlt er all sein Blut zum Herzen schießen,
Ihm dämmert’s vor dem Blick, ihm klingt’s im Ohr;
Sich neigend bricht er – Schauer im Gemüthe –
Von ihrem Mund des ersten Kusses Blüte.

Was sonst die Stunde bringt, das sagen Lieder
Nicht aus. Gesegnet, wer es einst empfand!
Ein Hall davon klingt lang nachzitternd wieder
Durch all sein Leben sank im Sonnenbrand
Ihm längst der Jugend Blumenschmuck darnieder:
Im rothen Herbstlaub noch, im Schneegewand
Vernimmt er fern am stillen Tag die Weise,
Die ihm dies Echo singt und lächelt leise.

Noch halten sich die Liebenden umfangen,
Im Strom der Lust vergessend Welt und Zeit,
Da tritt die Gräfin ein. Mit heißen Wangen
Fliegt schamhaft an der Mutter Brust die Maid;
Und bald hat jene Wissenschaft empfangen,
Von dem, was längst das Herz ihr prophezeit.
Seit Wochen still gefaßt auf solch Begegnen,
Was anders kann sie heute thun, als segnen?

Gregor auch weist den Freier nicht zurück;
Doch forscht er, ohne seine Wahl zu schmälen,
Zuvor noch klüglich nach manch anderm Stück,
Als nach dem wahlverwandten Zug der Seelen,
Er meint, zu dauerhaftem Eheglück
Darf Haus und Herd als sichrer Grund nicht fehlen,
Und, alle Macht der Sympathie in Ehren,
Liebe, die hungert, wird nicht lange währen.

»Nur eine Hütt’ und Sie!« ist leicht gesagt
Und schwer gethan. Auf Wochen laß’ ich’s gelten.
Auf länger find’ ich’s mindestens – gewagt,
Und mögt ihr mich darum prosaisch schelten.
Zwar Fälle giebt’s, wo Lieb’ im Kleid der Magd
Erst ganz als Königin strahlt. Doch sie sind selten,
Wie Silberkrähn; und weise thut Gregor,
Zieht er dem Ausnahmsfall die Regel vor.

Doch fügt sich Alles bald. Valer ist zwar
Nicht eben reich, allein er hat zu leben;
Ein Gut ist sein, ein Sümmchen blank und baar,
Ein Haus am Rhein dazu, bekränzt mit Reben.
Dorthin, beschließt man, soll das junge Paar,
Sobald der Priester Hand in Hand gegeben,
Sich übersiedeln. Bis zur Hochzeitsfeier,
Das heißt bis Ostern, bleibt als Gast der Freier.

Er bleibt und sieht beglückt den Reiz der Braut
Sich voller stets und inniger erschließen!
Denn wie die Lilie blüht sie, frischbethaut,
Und sein ist all ihr Duften, all ihr Sprießen.
O schöne Tage, deren Himmel blaut,
Mit Schweigen lass’ ich euch vorüberfließen,
Denn ihr seid eitel Glanz, und für den Dichter
Sind starke Schatten noth, wo hell die Lichter.

Wie kommt’s doch, daß wir besser Trauer singen,
Als Lust? daß mächt’ger stets ein Angesicht
Uns fesselt, dem vom Auge Thränen dringen?
Ist’s, weil der Menschenseele zartes Licht
Erst, wenn des Grames Schatten sie umringen,
In vollem Regenbogenstrahl sich bricht?
Ist’s, weil, seit Adam fiel, in jedem Herzen
Der letzte tiefste Ton ein Ton der Schmerzen?

Ein einzig Wölkchen dräut dem neuen Bunde,
Doch nur von fern. Des Hauses ältster Sohn,
Graf Paul, dem man nach Kasan hin die Kunde
Gesandt hat, scheint nicht sehr erbaut davon.
Er haßt, der Himmel weiß aus welchem Grunde,
Was deutsch sich nennt, und schreibt in bitterm Ton,
Als Schwager sei ein Russ´ im Bauernhemde
Ihm lieber, als ein Junker aus der Fremde.

Was ist dabei zu thun? Man läßt ihn grollen,
Man setzt sich drüber weg und doppelt leicht,
Weil Liebe Flügel hat. Indessen rollen
Die Nebel auf, wie Tag um Tag verstreicht;
Bald ist die Luft vom wärmerm Hauch durchquollen,
Im Garten schmilzt der Schnee vom Strahl erweicht,
Und glorreich endlich, Auferstehungswonne
Durch’s All ergießend, steigt die Ostersonne.

Und Hochzeit giebt es. Aus des Kirchleins Hallen,
Wo man die Ringe tauschte, geht’s zum Mahl,
Das man auf russisch hält; die Pfropfen knallen,
Die Gäste werden munter beim Pokal;
Ein Lied wird angestimmt, Trinksprüche schallen,
Man jauchzt, lacht, weint und küßt sich ohne Wahl;
Beim Nachtisch kniet Valer zu Anna’s Füßen
Und trinkt aus ihrem Schuh mit stummem Grüßen.

Und als der Abend dunkelt, steigt das Paar
Zum Hof herab, wo große Feuer brennen;
Dort tummelt sich der Knecht’ und Bauern Schaar.
Welch froher Lärm! Welch Durcheinanderrennen! ‘
Der Glühwein dampft und macht die Kehlen klar,
Die Balalaika schwirrt, und auf den Tennen
Siehst du im Hemd, verbrämt mit Purpurschnüren,
Manch schwarzgeaugtes Kind den Reigen führen.

Doch kaum, daß die Vermählten man gewahrt,
Da drängt sich Alles zu und flüstert leise;
Der küßt der Braut die Hand, wie Schnee so zart,
Und der des Kleides Saum nach Slavenweise.
Da tritt ein Greis mit silberweißem Bart,
Geführt vom blonden Enkel, aus dem Kreise,
Und spricht, wie Citherschlag und Reigen schweigt,
Die Arme kreuzend und das Haupt geneigt:

Anna Petrowna, nimm zum hohen Feste,
Nimm deines alten Knechtes Segen an;
Gott sei mit dir, wie du uns stets die beste
Gebietrin warst, und hold zu jedermann;
Ach, daß du Täublein nun so weit vom Neste,
Hinwegfliegst aus des heil´gen Rußlands Bann!
Traun, Lieb’ ist stark – doch wie wird uns geschehen,
Wenn wir dein Antlitz, Seelchen, nicht mehr sehen?

Denn du warst wie der Mond uns in der Nacht,
Du warst – er stockt und wischt die hellen Thränen
Sich mit des Aermels Pelz vom Auge sacht
Und muß sich schluchzend auf den Knaben lehnen.
Da geht durch Anna’s quellend Herz mit Macht,
Noch einmal hin der Heimath Lust und Sehnen;
Sie weint und lernt im höchsten Glück erkennen:
Es ist doch schwer, vom Vaterland sich trennen.

Ja, schwer ist jeder Abschied. Selbst vom Ort
Reizlos und traurig, wo wir Leid erfuhren,
Ziehn wir zuletzt nicht ohne Seufzer fort.
Wir drückten unsres tiefsten Wesens Spuren
Auf das, was stündlich um uns war, auch dort.
Ach, mit dem Braun der öden Haidefluren,
Den sand’gen Höhn, den düstern Föhrenbäumen
Verwuchs ein Stück von unserm Sein und Träumen.

Doch, wenn es gilt der Heimath Statt zu meiden,
Wo jeder Waldpfad Mährchen uns vertraut
Aus goldner Kindheit, wo von Glück und Leiden
Erinn´rung bebt in jedem Glockenlaut,
Altan und Garten in den Glanz sich kleiden
Der ersten Liebe, die nur sie geschaut,
Wo Giebel, Thürme, Wipfel alles wissen,
Was unser Herz beseligt und zerrissen:

Wohl drängt sich da mit Fug ein schmerzlich Ach
In’s Lebewohl. – Doch nun zu Anna’s Harme!
Sanft führt Valer sie fort; er fühlt es nach,
Was sie durchbebt, und schweigt im lauten Schwärme.
Erst spät, ganz spät, im stillen Brautgemach,
Da schließt er fest und treu sie in die Arme
Und spricht: O du, nun ganz und ewig mein,
Mein Herz soll fortan deine Heimath sein.

(aus einem größeren Gedicht)

Emanuel Geibel