Weihnachtsgeschichten: Christnacht von Karl Henckell

Christnacht

Moderne Ballade aus der Zeit des Sozialistengesetzes

Der Kaiser rief: „Reserve her!
Ins Glied, getreue Herden!
Allein Gott in der Höh sei Ehr’!
Schlagt an das Repetiergewehr,
Und Friede sei auf Erden!“

Choräle schallen in schimmernden Hallen,
Der Pfaff schrie: „Jesus machte uns gleich.
Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,
In einer Krippe das Himmelreich!“
Der Engel zu Kommerzrats kam

Mit Atlaskleid und Schleppe,
Mit Flittertand und Flatterkram,
Dekolletiert und ohne Scham
Wie eine feine Schneppe.
Bei Schnepfendrecke und Austerngeschlecke

Der Börsenkönig sein Bäuchlein strich,
Champagnerpfropfen knallten zur Decke –
Jesus von Nazareth, freue dich!
Durch eisige Gassen schritt der Wind
In weißem Totenkleide

Und mähte auf dem Weg geschwind
Ein ausgezehrtes Bettelkind
Mit seines Messers Schneide.
Pfiff um ein fadenscheiniges Dach,
Fuhr durch den Schornstein ins Zimmer,

Da tönte schwach durchs Bodengemach
Eines Säuglings flehend Gewimmer.
Die Mutter trug ihn auf dem Arm:
Wie stillt sie sein Verlangen?
Ihr Auge hohl von langem Harm,

Und Kinder rings, daß Gott erbarm!
Mit kreidebleichen Wangen.
Die Hungergeister tanzten den Reigen,
Das Unheil hockt’ auf dem Ofenrost,
Der Jammer hub an Krescendo zu geigen,

Die Not fraß Spinnen als Vesperkost.
Da starrt der ausgesperrte Mann,
Sah Weib und Kinder weinen
Und sann und starrte, starrt’ und sann
Und schrie die nackten Wände an:

„Brot, Brot! Brot für die Meinen!“
Weil mit eigener Hand für seinen Stand
Er gewählt nach Pflicht und Gewissen,
Hat mit eigener Hand ihm der Fabrikant
Seinen Lohn vor die Füße geschmissen …

Die Türe seufzte jämmerlich:
Gebt Raum dem Polizisten!
Der alte Scherge schämte sich:
„Ausweisungsordre – dauert mich –
Doch Ihr seid Sozialisten.“

Tür kracht. Wie Eisenrädergeschmetter
Brach der gemarterte Lohnsklav los:
„Fluch, Fluch! Ein höllisches Donnerwetter
Schleudre die Schurken in Jesu Schoß!“

Wie wenn des Dampfes Schwall, gezwängt
In die metallne Fessel,
Urplötzlich wild nach außen drängt
Und unaufhaltsam treibt und sprengt
Und zischend leert den Kessel:
So schoß dem Eisendreher empor

Aus dem erzgepanzerten Herzen
Mit Zischen und Brausen ein brodelnder Chor,
Der dampfende Gischt seiner Schmerzen.

„Die Ketten klirren Hohn und Spott,
Die Ketten klirr’n im Nacken,
Uns hilft kein Heiland, hilft kein Gott,

Die Ketten klirren Hohn und Spott,
Die Ketten klirr’n im Nacken.
Zu feiernder Stund’, wo im Weltenrund
Halleluja! die Engel trompeten,

In des Elends Schlund wie ein räudiger Hund,
Wie ein räudiger Hund getreten!“
Er schwang den Hammer in der Faust
Und wuchs empor, ein Grauen;
Die Kinder vor dem Vater graust,

Er schwang den Hammer in der Faust,
Entsetzlich anzuschauen.
Und wie von prophetischem Geist entbrannt,
Im Hirne verheerende Gluten,
Umspannt er des ältesten Knaben Hand,

Seine Worte fluten und bluten:
„Ich hör’s und seh’s: das Rottuch weht,
Im Sturmschritt die Kolonnen;
Eilt, Brüder, eilt! – was kommt ihr spät?
Hoch auf der Barrikade steht

Das Häuflein blutberonnen.
Die Lücke schließt! Kartätschen prasseln,
Des Kaisers Garden – Genossen, Sturm!
Kommandorufe! Kanonen rasseln,
Die Glocken heulen von Turm zu Turm.

Nun schwöre deinem Vater, Sohn,
In heiliger Freiheit Namen,
Zum Todeskampf mit Schmach und Fron
Den Eid der Revolution –
Und sei kein Schurke! Amen.“

Hohl heulte vermummte Verschwörergesänge
Der Wind im Ofen mit dräuendem Ton
Und trieb mit des Aschenvolks totem Gemenge
Eine frische, fröhliche Rebellion.

– – – – – – – – – – – – –

Der Scherge stieß sie vor sich her
Wie eine Hammelherde.
Allein Gott in der Höh sei Ehr’! –
Ein roher Knuff zur Wegeszehr –
Und Frieden auf der Erde!
Choräle schallen, Sektpfropfen knallen,

Lump, stirb, verdirb, du roter Hallunk!
Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,
Dem Kanzler Fackeln und Minnetrunk!

Karl Henckell