Weihnachtsgeschichten: Allerlei Gewölk. von Theodor Fontane

Allerlei Gewölk.

Ich schloß das vorletzte (fünfzehnte) Kapitel mit einem glücklichen Erziehungsakt meines Vaters; mit einem nicht glücklichen meiner Mutter habe ich dies neue Kapitel zu beginnen.

Weihnachten rückte heran und schon die ganze Woche vorher hieß es: „Aber diesmal wird es eine Freude sein,… so was Schönes“, und wenn ich dann mehr wissen wollte, setzte die gute Schröder hinzu: „Gerade was du dir gewünscht hast… Die Mama ist viel zu gut; denn eigentlich seid ihr doch bloß Rangen.”

„Aber was is es denn?“

„Abwarten.“

Und so fieberhaft gespannt sahen wir dem Heiligabend entgegen. Endlich war er da. Wie herkömmlich verbrachten wir die Stunde vor der eigentlichen Bescherung in dem kleinen, nach dem Garten hinaus gelegenen Wohnzimmer meines Vaters, das absichtlich ohne Licht blieb, um dann den brennenden Weihnachtsbaum, den meine Mama mittlerweile zurechtmachte, desto glänzender erscheinen zu lassen. Mein Vater unterhielt uns während dieser Dunkelstunde, so gut er konnte, was ihm jedesmal blutsauer wurde. Denn wiewohl er unter Umständen, wie vielleicht nur allzuoft hervorgehoben, in reizendster Weise mit uns plaudern und uns durch freie Einfälle, die wir verstanden oder auch nicht verstanden, zu vergnügen wußte, so war er doch ganz unfähig, etwas einer bestimmten Situation Anzupassendes, also etwas für ihn mehr oder weniger Zwangsmäßiges, leicht und unbefangen zum besten zu geben. Sonst ein so glücklicher Humorist, konnte er den richtigen Ton bei solchen Gelegenheiten nie treffen. Am Weihnachtsabend trat dies immer sehr stark hervor. Er sagte dann wohl zu sich selbst, fast als ob er sich auf eine richtige Stimmung hin präparierte: „Ja, das ist nun also Weihnachten… An diesem Tage wurde der Heiland geboren… ein sehr schönes Fest…“ und hinterher wiederholte er all diese Worte auch wohl zu uns und sah uns dabei mit zurechtgemachter Feierlichkeit an. Aber eigentlich schwankte er bloß zwischen Verlegenheit und Gelangweiltsein, und wenn dann zuletzt die Klingel der Mama das Zeichen gab und wir nach dreimaligem Ummarsch um einen kleinen runden Tisch und unter Absingung eines an Plattheit nicht leicht zu übertreffenden Verses:

„Heil, Heil, Heil,
Heil, dreifacher Segen,
Strahl’ o heller Lichterglanz,
Unsrem Fest entgegen“

über den Flur fort in das Vorderzimmer einmarschierten, war er, mein Vater, womöglich noch froher und erlöster als wir, die wir bis dahin doch bloß vor Ungeduld gelitten hatten.

So war es denn auch an dem hier zu schildernden Weihnachtsabend wieder. Unser Einmarsch unter Absingung obiger Strophe war eben erfolgt, und verwirrt und befangen standen wir, auf den Baum starrend, um die Tafel herum, bis die Mama uns endlich bei der Hand nahm und sagte: „Aber nun seht euch doch an, was euch der heilige Christ beschert hat. Hier das“ – und diese Worte richteten sich speziell an mich, – „hier das unter der Serviette, das ist für dich und deinen Bruder. Nimm nur fort.“ Und nun zögerten wir auch nicht länger und entfernten die Serviette. Was obenauf lag, weiß ich nicht mehr, vielleicht zwei große Pfefferkuchenmänner oder ähnliches, jedenfalls etwas, was uns enttäuschte. „Seht nur weiter“, und nun nahmen wir, wie uns geheißen, auch das zweite Tuch ab. Ah, das verlohnte sich. Da lagen gekreuzt zwei schöne Korbsäbel, also genau das (die gute Schröder hatte recht gehabt), was wir uns so sehnlich gewünscht hatten. Und so stürzten wir denn auf die Mama zu, ihr die Hände zu küssen. Aber sie wehrte uns ab und sagte auch diesmal wieder: „Seht nur weiter“, und in einem Aufregezustand ohnegleichen, denn was konnte es nach diesem Allerherrlichsten noch für uns geben, wurde nun auch die dritte Serviette fortgezogen. Aber, alle Himmel, was lag da! Ein aus weißem und rotem Leder geflochtener Kantschu,der damals, ich weiß nicht unter welcher sprachlichen Anlehnung, den Namen Peserik führte. Meine Mutter hatte erwartet, unsere Freude durch diese scherzhafte Behandlung des Themas gesteigert zu sehen. Aber nach der Freudenseite hin gingen meine Gedanken und Gefühle durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Ich war einfach außer mir und lief in den Garten hinaus, um da wieder zu mir selber zu kommen, was freilich nicht glücken wollte. Die Weihnachtsfreude war hin, war an einem gutgemeinten, aber verfehlten Scherze gescheitert. Hatte ich unrecht? Ich glaube, nein. Jedenfalls, wie ich die Sache vor sechzig Jahren ansah, so sehe ich sie noch heute an. Es lag diesem Einfall eine volle Wesens- und Charakterverkennung zugrunde. Für andere hätte es vielleicht gepaßt, für mich nicht. Ich erinnere mich, vor vielen Jahren einmal in einem Bogumil Goltzschen Buche, das den Titel führte: ‚Aus meiner Kindheit‘ (oder so ähnlich) gelesen zu haben, er, der Verfasser, sei jedesmal glücklich gewesen, wenn der Peserik seiner Mutter aus aller Macht über ihn gekommen sei. „Um jeden Schlag schade, der vorbeiging.“ Natürlich kann auch nach diesem Prinzip erzogen werden, und ich will gern einräumen, daß dabei prächtige, urkräftige Jungen heranwachsen können, die für die Zukunft mehr Tüchtigkeit versprechen und dies Versprechen auch halten, als solch empfindsames, von allerhand Eitelkeiten beherrschtes Bürschchen, wie ich eines war. Aber wenn dies auch dreimal richtig wäre, so bliebe dieser Erziehungseinfall – denn etwas Erzieherisches sollte es im letzten doch sein – in meinen Augen immer noch ebenso verfehlt. Ich konnte mich doch nicht plötzlich umwandeln; ich, blieb, meinetwegen leider, genau derselbe Empfindling, der ich war; nichts an mir und in mir wurde besser, ich hatte nichts davon als eine Kränkung und ein verdorbenes Fest. Es gibt nun mal verschiedene Naturen, und wenn es geboten sein mag, schwächer Ausgestattete zu kräftigen und zu stählen, auch wenn es diesen zunächst wehe tut, so ist doch, von den sonstigen Schwierigkeiten der Sache ganz abgesehn, die Stunde, wo der Weihnachtsbaum angezündet wird, sicherlich nicht der Zeitpunkt dafür. Es soll an diesem Abend nicht erzogen, sondern erfreut werden, und der, dem diese Aufgabe zufällt, und der sich ihr noch dazu freudig und liebevoll zu unterziehen trachtet, der muß sich doch notwendig die Frage vorlegen, ob der zu Erfreuende an dem, wodurch man ihn erfreuen will, auch wirklich eine Freude haben kann.

Überhaupt, der Abend, an dem dies spielte, war kein rechter Glücksabend.

Es gibt eine kleine Geschichte, die sich, wenn ich nicht irre, „die Pantoffeln des Kasan“ betitelt. Gerade damals mußte ich diese, die mutmaßlich aus Tausendundeiner Nacht herübergenommen war, aus meinem französischen Lesebuche übersetzen. Es handelt sich darin um ein Paar hübsche Pantoffeln, die jeder gern haben möchte; sobald er sie aber hat, bringen sie ihm bloß Unglück. Ähnlich erging es mir mit den Korbsäbeln – ich wollte sie haben, und als ich sie hatte, brach das Unheil über mich herein. Allerdings war mir bis zum Eintritt der eigentlichen Katastrophe noch eine kurze Frist gegönnt, während welcher ich mich – nach Überwindung des ersten Ärgers am Weihnachtsabend selbst – wenigstens zeitweilig noch in der Vorstellung wiegen durfte, mich meines Weihnachtsgeschenkes freuen zu können. Dies hatte seinen Grund in folgendem. Es war schon Jahr und Tag, daß ich, modern zu sprechen, auf nichts Geringeres als auf eine Armeeorganisation hinarbeitete. Dublierung meiner Streitkräfte wäre mir natürlich das Liebste gewesen, da sich das aber verbot, so war ich auf Neubewaffnung und mit Hilfe dieser auf eine neue Taktik, überhaupt auf ein neues Heer- und Kriegssystem aus. Der bis dahin in meiner ausschließlich mit Speer oder Lanze bewaffneten Truppe vorherrschende Gedanke war, weil ich eine heilige Scheu vor ausgestoßenen Augen hatte, durchaus auf Defensive gerichtet gewesen und hatte von Anfang an zu der Weisung geführt, in kritischen Momenten immer nur, mit Rücken an Rücken, die Speere vorzustrecken, also das zu bilden, was in der Landsknechtszeit ein Igel genannt wurde. Danach war denn auch jederzeit verfahren worden. Aber jetzt, wo die zwei Korbsäbel da waren, war es mir klar, daß es mit dem alten System vorbei sein müsse. Das beständige Stillstehen und Abwarten des feindlichen Angriffs war langweilig und unmännlich zugleich. Und so wurde denn beschlossen, bei der gesamten Truppe statt des Speeres den ganz auf Attacke gestellten Korbsäbel und statt des unbequemen hohen viereckigen Schildes einen kleinen Rundschild einzuführen, nur gerade groß genug, das Gesicht zu decken. Es glückte das auch alles. Die Beschaffung der Säbel wurde mit Hilfe verschiedentlich erneuten Vorgehens gegen die mütterliche Wirtschaftskasse durchgesetzt, und die Herstellung der Rundschilde war meine Sache. Lange bevor Ostern da war, war, was Bewaffnung angeht, der Übergang aus dem einen System ins andere bewerkstelligt. Ich versprach mir viel davon, und der Umstand, daß die jeden Mittwoch- und Sonnabendnachmittag nach wie vor von uns bezogenen „Kampements“ ohne Störung oder Angriff von seiten unserer Feinde – trotzdem sich etliche große, halbwachsene Jungen mit schottischen Mützen unter ihnen gezeigt hatten – verstrichen waren, bestärkte mich darin, daß wir angefangen hätten, der uns feindlichen Straßenjungenwelt zu imponieren.

Eine Weile blieb ich auch noch in dieser Täuschung. Aber, wie schon angedeutet, auch wirklich nur eine kleine Weile.

* * *

Zeilenumbruch für die Labeled Section Transclusion Das Kampieren im Freien war jedesmal ein unendlicher Genuß für mich. Wir hatten verschiedene Lagerstellen; eine war in den tiefen Sandgruben am Kirchhof, eine zweite zwischen den Dünen (in der Nähe der Stelle, wo Mohr eingescharrt worden war) und eine dritte, mehr landeinwärts, in den Moorgründen, die sich mit ihren hundert Torfpyramiden und ebenso vielen dunklen Wasserlachen von den Ausläufern der Stadt her bis nach Corswandt und Kamminke zogen. Aber mehr noch liebten wir eine Waldstelle, nahe bei Heringsdorf, die „Störtebeckers Kul’“ hieß. Dies war ein tiefes Loch, richtiger ein mächtiger Erdtrichter, drin der Seeräuber Störtebecker, der zu Anfang des 15. Jahrhunderts die Nord- und Ostsee beherrschte, mit seinen Leuten gelagert haben sollte. Gerade so wie wir jetzt. Das gab mir ein ungeheures Hochgefühl, Störtebecker und ich. Was mußte ich für ein Kerl sein! Störtebecker war schließlich in Hamburg hingerichtet worden, und zwar als letzter seiner Bande. Das war mir nun freilich ein sehr unangenehmer Gedanke. Weil es mir aber, alles in allem, doch auch wieder wenig wahrscheinlich war, daß ich der Hamburger Gerichtsbarkeit ausgeliefert werden würde, so sog ich mir aus dem Vergleich mit Störtebecker unentwegt allerhand süße Schauer. Die „Kule“ war sehr tief und bis zu halber Höhe mit Laub vom vorigen und vorvorigen Jahre überdeckt. Da lag ich nun an der tiefsten Stelle, die wundervollen Buchen über mir, und hörte, wenn ich mich bewegte, das Rascheln des trockenen Laubes, und draußen rauschte das Meer. Es war zauberhaft. Nur meine Truppe verdroß mich beständig, denn jeder einzelne, mit seiner höchst zweifelhaften Räuberanlage, stellte mir die gewöhnlichste Prosa des Lebens wieder vor Augen. Mein jüngerer Bruder, gutmütig wie er war, nahm immer eine Bierkruke mit aufgelöstem und furchtbar schäumenden Lakritzensaft mit, was meine „Störtebeckerschen“, die sich davon einschenken ließen, „Met“ nannten. Zugleich waren meines Bruders Taschen mit einer Unmenge von wurmstichigem Johannisbrot gefüllt, um das man sich, mit einer allerdings halben Räuberenergie, balgte. Mir widerstand das alles, und ich trank Quellwasser, das ich mit der flachen Hand schöpfte.

So ging es in der „Räuberkule“ zu. Mir persönlich, so gruselig die Kule war, war übrigens ein etwas näher gelegener Platz fast noch mehr ans Herz gewachsen; das war eine Waldlichtung, auf halbem Weg nach Kamminke, dieselbe Stelle, die schon im Sommer 27, an eben dem Tage, wo wir unsere Einfahrt in Swinemünde hielten, einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte. Von rechts her lief hier ein Wässerchen, das aus den benachbarten Torfgräbereien kam, quer über den Weg hin, und Bohlen und Holzstämme, mit einer von Flechten überzogenen und ziemlich unsicheren Anlehne, bildeten eine Brücke darüber. Von derselben rechten Seite her, weil die Brücke hier wenig Abfluß gönnte, staute sich dann auch das Moorwasser und schuf eine von Binsen eingefaßte Lanke, drauf gelbe und weiße Teichrosen schwammen. An der der Stadt zugelegenen Brückenseite, da wo das mit Kiennadeln übersäte Ufer ein wenig anstieg, ließ ich meine Truppe mit Vorliebe lagern und erging mich, Mal auf Mal, in der entzückenden Vorstellung, daß ich der Verteidiger dieses Brückenüberganges oder, was mir noch besser klang, dieses „Defilés“ sei. Wie die Verteidigung zu machen sei, war mir ganz klar: Abtragen der Bohlen, Auftürmen der Stämme zu einem Verhau und dann überdeckte Löcher oder Wolfsgruben, in die der Feind stürzen mußte, selbst wenn er das Verhau genommen, was doch immer noch fraglich. Aber inmitten dieser Siegesvorstellung überkam mich plötzlich wieder eine furchtbare Angst; mein Vertrauen zu mir selber war freilich unbegrenzt, ich konnte nur sterben, und sterben war süß – aber meine Truppe! Fritz Ehrlich war ein Heldenjunge, sonst aber war alles foosch. Da lagen sie wieder, mit einem Süßholzstengel zwischen den Zähnen, und kein einziger unter ihnen, den einen Genannten abgerechnet, der den Moment begriffen oder von Disziplin eine Ahnung gehabt hätte. „Thompson“, rief ich, „hole mir die weiße Mummel da.“ – „Hol sie dir selber“, und dabei lachte der freche Junge. Und mit solchem Material wollt’ ich das Defilé halten! Ich ließ den Hornisten zum Antreten blasen und konnte von Glück sagen, daß er gehorchte. Trommler und Hornist gehorchten übrigens immer, weil es ihnen Spaß machte. Ja, Spaß, Spaß, das war es. Von ernsterem Erfassen unserer Aufgabe keine Spur. Und in dem Gefühl, wieder einen großen Moment versäumt zu haben, trat ich mit meiner Truppe den Rückzug an. Sie hatte sich sichtlich verschlechtert. Als Hastaten waren sie besser gewesen. Das kommt bei Reformen heraus.

* * *

Ärgerliche Betrachungen wie diese kamen mir häufig. Im ganzen aber war das Frühjahr 31, eben meine „Fristzeit“, doch eine glückliche Zeit für mich und blieb es bis in den Sommer hinein. Inmitten der mir immer wiederkehrenden Zweifel, bestand doch die Tatsache fort, daß wir nun schon seit Monaten die Straße beherrschten und weder in der Stadt bei unsern gewöhnlichen Spielen, noch draußen auf unsern Lagerplätzen einem Angriff von seiten unserer Gegner ausgesetzt gewesen waren. All das gab mir, meinen Beängstigungen zum Trotz, doch auch wieder ein bestimmtes Maß von Vertrauen zurück. Ich sagte mir: „Ja, die Truppe ist schlecht; es sind lauter Ausreißer, und Fritz Ehrlich und ich können die Sache nicht allein machen; aber, wenn die Truppe schlecht ist, die Führung ist desto besser, und weil unsre Feinde das fühlen, haben sie Respekt und gönnen uns Frieden.“ Ja, sie gönnten uns Frieden, wirklich. Aber, wie sich bald zeigen sollte, die Ruhe, die wir hatten, war die Ruhe vor dem Sturm. Unsere ganze Stadt– und Straßenherrschaft hatte von Anfang an auf dem Ansehen unserer Eltern beruht, die man in ihren Kindern nicht beleidigen wollte. Das meiste, wenn nicht alles, war Vorteilserwägung und Rücksichtnahme gewesen, wozu die meist im Dienst der Reeder und Kaufleute stehenden Schiffer und Hafenarbeiter ihre anfänglich bloß an Zahl, aber neuerdings auch an Kraft uns weit überlegenen Jungens ermahnt haben mochten.

Eine lange Zeit war es so gegangen, und man hielt sich, wenn auch widerstrebend, auch jetzt noch zurück. Als aber eines Tages einige der Allerkleinsten und Schwächlichsten meiner Truppe, die natürlich, so lange sie sich sicher wußten, auch immer die Herausforderndsten waren, sich wieder mal allerlei Neckereien erlaubt hatten, brach die Revolution aus. Man wollte unsere Herrschaft brechen, uns einen Denkzettel geben. Ich habe die Nachmittagsstunde, wo sich dies ereignete, noch deutlich vor mir. Wir spielten um die Kirche herum, und ich meinerseits stand eben auf einem auf zwei hohen Sägeböcken liegenden und von beiden Seiten her schon mit Eisenkrammen eingespannten Baumstamm, als ich mit einem Male sehen mußte, daß zwei der Meinigen, die grad’ über den etliche hundert Schritt entfernten Marktplatz gingen, beim Kragen gepackt und von einem bildhübschen Jungen, der Erich Munk hieß, erst übergelegt und dann abgestraft wurden. Ein anderer Junge, Freund Erich Munks, stand daneben und lachte. Die beiden Abgestraften schrien furchtbar, und wiewohl es mir sicher war, daß sie wegen ihres hochmütigen und hämischen Wesens das Übergelegtwerden vollkommen verdient hätten, so gebot doch der Korpsgeist, die kleinen Neckebolde nicht im Stich zu lassen. Ich sprang also von dem Sägebock herunter und lief, von etlichen Mitspielenden gefolgt, auf die Kampfesstelle zu, natürlich in der Absicht, den Munk zu packen. Dieser aber, der stark und mutig war, wich mir, offenbar nach einem Plane, den er sich gemacht hatte, vorsichtig aus, ja, floh geradezu, so daß mir nichts übrigblieb, als den andern Jungen, der nur zugesehen hatte, zu fassen und niederzuwerfen. Aber nun erschien auch Erich Munk wieder und warf sich mit aller Kraft auf mich, um mich von seinem Freunde loszukriegen, was ihm jedoch nicht glückte, weil ihn die fünf, sechs Jungen, die mir vom Kirchplatz her gefolgt waren, an Armen und Beinen immer wieder von mir wegzerrten. Dabei zerrissen sie ihm die Jacke, was nun die Wut des Jungen aufs höchste steigerte. Er zog jetzt einen rostigen, unten abgebrochenen und dadurch zahnig gewordenen Nagel aus der Tasche, jagte damit die kleine Meute in die Flucht, und nun aufs neue über mich herfallend, stieß er mir den Nagel in den Oberarm. Ich habe noch die Narbe. Da ließ ich nun das unter mir liegende Opfer los, kam in ein Ringen mit Munk und entriß ihm schließlich auch den Nagel, mit dem ich mich nun vor ihn hinstellte, wie wenn ich sagen wollte: „Ich könnte dich jetzt morden, ich will aber nicht.“ Dann lachten wir uns gegenseitig verächtlich an und gingen langsam unseres Weges. Eigentlich war ich Sieger geblieben, beide Feinde hatten an der Erde gelegen, und den großen rostigen Nagel, auf den ich nicht wenig stolz war, nahm ich mit nach Hause, wo mein Arm mit Arkebusade gewaschen wurde, was sehr brannte. Ja, ich hatte gesiegt. Aber trotzdem, ich konnte der Sache nicht froh werden und empfand deutlich, daß unserer Herrschaft Tage gezählt seien. Ich sah ganz klar, und die nächsten Tage bestätigten es, daß man auf seiten unserer Gegner willens geworden war, uns ihre Überlegenheit endlich fühlbar zu machen. Es kam nicht eigentlich zu Angriffen, aber wenn wir mit ihnen zusammentrafen, so waren immer ein paar der großen, schon mit auf See gewesenen Jungen zwischen ihnen, die nun beim Vorübergehen ihre schottischen Mützen abnahmen und uns furchtbar tief grüßten. Kein Zweifel, sie wollten uns verhöhnen. Mir wurde unheimlich dabei, und ich dachte an Abrüstung. Aber wie war das zu machen? Und wenn abgerüstet war, war dadurch meine Lage gebessert?

Theodor Fontane